Die drei leitenden Ärzte vom Notfallkrankenhaus Wladimir, die gestern auf Einladung vom Direktor des BRK Erlangen-Höchstadt, Jürgen Üblacker, eingetroffen sind, um das Rettungswesen und den Klinikalltag in der deutschen Partnerstadt kennenzulernen, werden sich bis Freitag nicht nur mit medizinischen Fachfragen beschäftigen. Sie haben auch eine Meinung zur Deutschen Einheit und machen kein Hehl aus dieser.
Ein „historisch richtiges und gerechtes Ereignis“ nennen sie die Deutsche Einheit, einen „unausbleiblichen Prozeß“ und einen „Anlaß zur Freude“ auch und gerade für die Russen. Tragisch freilich, daß sich im gleichen Atemzug der Geschichte, als die beiden Teile Deutschlands wieder zusammenfanden, sich der Zerfall der Sowjetunion vollzog, ausgerechnet des Staates, der Mauerfall und Wiedervereinigung blutig hätte verhindern oder zumindest verzögern können. Man stelle sich vor, anstelle von Michail Gorbatschow wäre noch Konstantin Tschernjenko oder gar Jurij Andropow in Moskau an der Macht gewesen. Lieber nicht.
Nein, kaum einer in Rußland, sie jedenfalls nicht, habe damals vor 20 Jahren die Befürchtung gehabt, Deutschland könne seine wiedererlangte Größe und staatliche Einheit mißbrauchen oder gar zu einer Gefahr für den Frieden in Europa und der Welt werden. Das Vertrauen sei bereits damals groß gewesen, und heute sehe man sich darin bestätigt. Gerade die intensiven Begegnungen einer Partnerschaft wie zwischen Erlangen und Wladimir seien Beweis genug für die Richtigkeit ihrer These. Nun sei es aber an der Zeit, endlich auch auf dem Gebiet der zerbrochenen UdSSR wieder für mehr Einheit zu sorgen. Nicht in dem Sinne einer Restauration, wohl aber zu Gunsten von Politik und Wirtschaft – und der Menschen, deren früheren sozialen und verwandtschaftlichen Bande durch die neuen Grenzen oft gekappt seien. Ein Blick ins Baltikum, wo eine große russische Minderheit zur EU gehört, oder auf die Krim und in den Kaukasus genügt, um die Brisanz der Frage vor Augen zu führen.
Walentin Babyschin spricht gern in Bildern, um die Geschichte seines Landes zu illustrieren. Die Kolchose ist so eine Metapher. Da haben wir auf der einen Seite einen Großbauern mit Kühen und Pferden, auf der anderen Seite einen kleinen Häusler mit nur ein paar Ziegen. Nun sollen beide in einer Kolchose zusammengehen. Der Konflikt ist vorprogrammiert: Der eine ist nicht bereit zum Zusammenschluß, der andere ist gar nicht in der Lage dazu. Ein Zwangssystem, zum Scheitern verurteilt. Ebenso wie die künstliche Trennung und Spaltung eines Volkes. Walentin Babyschins Bruder diente übrigens als Soldat der Sowjetarmee in der DDR und erzählte in der Familie lange vor dem Mauerfall von einem Zustand, der so nicht bis in alle Ewigkeit fortzusetzen war. Nicht einmal mit Gewalt.
Heute fahren Walentin Babyschin, Jewgenij Jaskin und Dmitrij Neronow mit 250 Erlangern nach Jena, um dort die Deutsche Einheit zu feiern und die offizielle Delegation aus Wladimir zu treffen. Was könnte symbolischer sein? Russen reisen aus dem einen Teil Deutschlands in den anderen, um dort ihre eigenen Landsleute wiederzusehen. Grenzenlos schön. Ein Geschenk der Geschichte: Russen und Deutsche feiern gemeinsam ihren Sieg über Revanche und Rache, ihren Sieg über den Krieg.